Annes Schweigen:

Zitat von Prof. Dr. Norbert Mecklenburg, Köln

Zum Stück und über Sabiha

Identitäten verhärten sich leicht zu Identitätspanzern, wenn Individuen oder Gruppen sich unter zu
großem sozialen Druck von Seiten der Anderen fühlen. Solche Panzer lassen dann oft die Stimme
der Wahrheit nicht mehr herein und die Stimme der Menschlichkeit nicht mehr heraus. Ein Teil der
türkischstämmigen Deutschen neigt zu solcher Panzerung, weil ein Teil der anderen Deutschen ihnen
gegenüber nicht offen genug ist. Sie ziehen dann entweder einen türkisch-nationalen oder einen
islamischen Panzer über, und ihre Kommunikation mit ihrer Umwelt verhärtet sich entsprechend
ethnozentrisch. Wie könnten sie von dieser Verhärtung frei kommen? Am ehesten, indem sie an
sich selbst und anderen erfahren, dass Identitäten nicht so starr und homogen sind, wie sie geglaubt
haben. Diese Erfahrung kann schmerzlich sein, aber auch befreiend. Das Stück über Sabiha führt
solch eine Erfahrung vor. Das Kernmotiv: eine türkische Deutsche entdeckt ihre armenische Herkunft,
erscheint extrem, aber es ist exemplarisch. Fethiye Cetin hat es mit ihrem anrührenden Buch „Meine
Großmutter“ (deutsch: 2011) bewiesen. Auch in Deutschland werden sich noch manche Menschen zu
Wort melden, die türkische und armenische Vorfahren haben. Das Stück von Dogan Akhanli, der als
Türke den radikalsten Roman über den Genozid an den Armeniern von 1915 geschrieben hat : „Die
Richter des Jüngsten Gerichts“ (deutsch: 2007), kann dazu beitragen, dass Identitätspanzer abgelegt
werden und dass die Stimme der Wahrheit und der Menschlichkeit Gehör findet. Diese Stimme kann
jeder hören, so heißt es in einem etwas älteren Stück über eine andere Frau, die sich als Fremde
fühlt, aber ihren ethnozentrischen Identitätspanzer bewundernswert überwindet: „Es hört sie jeder,
geboren unter jedem Himmel, dem des Lebens Quelle durch den Busen rein und ungehindert fließt.“
(Goethe: „Iphigenie auf Tauris“)

Prof. Dr. Norbert Mecklenburg, Köln

(Jahrgang 1943, Akademischer Oberrat und apl. Professor für Neuere deutsche Literatur)


Wir danken Prof. Dr. Norbert Mecklenburg für dieses wunderbare Zitat und seine Unterstützung.
Unterstützen auch sie uns, erzählen sie uns ihre Geschichte.
Hier werden wir demnächst Gastbeiträge und vertiefte Hintergründe über unsere Arbeit an Annes Schweigen veröffentlichen.